
In Deutschland wird wieder einmal über die Arbeitszeit diskutiert. Stimmen aus Politik und Wirtschaft fordern, dass die Menschen mehr leisten müssten, um den Herausforderungen der Zukunft gewachsen zu sein. Zwischen Forderungen nach Steueranreizen, dem Streichen von Feiertagen oder Änderungen beim Teilzeitrecht scheint die Debatte an Fahrt aufzunehmen. Doch welche Ideen sind praktikabel? Und woran scheitert eine echte Veränderung?
Bevor man sich in Details verliert, lohnt sich ein nüchterner Blick auf das große Ganze: Wie viele Stunden arbeiten wir wirklich, und warum ist das plötzlich ein Problem? Die Antwort fällt komplexer aus, als manche Überschrift vermuten lässt. Ein strukturelles Problem trifft auf emotionale Debatten, wirtschaftliche Interessen auf gesellschaftliche Realität. Doch eine einfache Lösung gibt es durchaus – nur sieht sie anders aus, als viele glauben.
1. Wenn Arbeit plötzlich wieder zählt

Die Diskussion um die Anzahl der Arbeitsstunden der Deutschen hat sich in den vergangenen Monaten intensiviert. Politiker, Ökonomen und Arbeitgeberverbände betonen immer wieder, dass Deutschland im internationalen Vergleich zu wenig arbeite. Doch die Forderung, einfach „mehr zu arbeiten“, greift zu kurz. Was genau damit gemeint ist, bleibt oft diffus: Geht es um Wochenstunden, Feiertage oder ungenutztes Potenzial im Arbeitsmarkt?
Klar ist: Die durchschnittliche Arbeitszeit in Deutschland ist historisch niedrig. Aber das allein erklärt nicht, woher der wirtschaftliche Druck rührt. Bevor konkrete Maßnahmen diskutiert werden, ist es sinnvoll, die Gründe für diese Entwicklung zu verstehen – und sich zu fragen, ob die reine Zahl der Stunden wirklich der entscheidende Hebel für mehr Wohlstand ist. Denn nicht jede Arbeitszeit ist gleich produktiv, und nicht jede Lösung greift dort, wo das eigentliche Problem liegt.
2. Der Feiertag als Wirtschaftsrisiko?

Ein Vorschlag, der immer wieder auftaucht, ist die Streichung eines Feiertags. Die Idee: mehr Arbeitstage gleich mehr Wirtschaftsleistung. Schon in den 90ern wurde der Buß- und Bettag geopfert – mit ähnlicher Begründung. Auch heute sehen manche Ökonomen darin einen pragmatischen Weg, um kurzfristig zusätzliche Stunden zu gewinnen. Doch was bringt dieser symbolische Eingriff wirklich?
Berechnungen zeigen: Ein zusätzlicher Arbeitstag würde das Bruttoinlandsprodukt nur minimal erhöhen – um gerade einmal 0,2 Prozent. Der Effekt auf die Jahresarbeitszeit wäre ebenso bescheiden. Und: Länder mit vielen Feiertagen wie Malaysia arbeiten insgesamt oft mehr als Deutschland. Das zeigt: Die Zahl der Feiertage steht nicht im direkten Zusammenhang mit Arbeitsleistung. Dieser Vorschlag ist daher vor allem eines – plakativ, aber wenig wirkungsvoll.
3. Steuerfrei in die Überstunden?

Ein beliebtes politisches Mittel zur Erhöhung der Arbeitszeit ist die steuerliche Begünstigung von Überstunden. Die Idee klingt zunächst attraktiv: Wer mehr arbeitet, darf mehr behalten. Für viele Arbeitnehmer könnte das ein Anreiz sein, zusätzliche Stunden zu leisten – vor allem, wenn sie dafür mehr Netto vom Brutto sehen.
Doch bei genauerem Hinsehen zeigt sich ein anderes Bild. Bereits jetzt werden viele Überstunden geleistet, ein großer Teil davon unbezahlt. Das Problem liegt also nicht in fehlenden Anreizen, sondern in strukturellen Fragen: Wie viel Mehrarbeit ist überhaupt realistisch, ohne Gesundheit und Freizeit zu gefährden? Gewerkschaften warnen, dass diese Maßnahme vor allem diejenigen trifft, die ohnehin schon stark belastet sind. Steuerfreie Überstunden sind daher eher Symbolpolitik als echte Lösung.
4. Teilzeit verbieten – ein Irrweg?

Besonders kontrovers ist der Vorschlag, das gesetzlich verankerte Recht auf Teilzeit wieder abzuschaffen. Wer mehr arbeitet, stärkt die Wirtschaft – so die vereinfachte Logik dahinter. Doch sie ignoriert die Realität vieler Beschäftigter, insbesondere von Frauen mit Kindern, die aufgrund fehlender Betreuungsangebote keine andere Wahl haben.
Rund ein Fünftel aller Erwerbstätigen arbeitet in Teilzeit, unter Müttern mit kleinen Kindern sind es sogar fast 70 Prozent. Diese Menschen per Gesetz zur Vollzeit zu zwingen, ist keine realistische Option. Im Gegenteil: Viele würden dann ganz aus dem Arbeitsmarkt ausscheiden – was dem Ziel steigender Arbeitsstunden klar widerspricht. Zwar würde sich die Statistik pro Erwerbstätigem rein rechnerisch verbessern, doch der Schaden für die Volkswirtschaft wäre enorm. Das zeigt: Nicht jede Zahl erzählt die ganze Wahrheit.
5. Der unterschätzte Hebel: Frauenarbeit

Was in der Debatte oft untergeht, ist der entscheidende Einfluss der Frauenerwerbstätigkeit. Die Mehrheit der Frauen in Deutschland ist berufstätig – aber viele nur in Teilzeit. Eine Studie zeigt: Hunderttausende Frauen würden gerne mehr arbeiten, wenn die Rahmenbedingungen stimmen würden.
Der Hebel ist enorm: Würden alle Frauen, die heute in Teilzeit arbeiten, in Vollzeit wechseln, könnten laut Schätzungen 840.000 Vollzeitstellen entstehen. Das allein würde den Fachkräftemangel spürbar mildern und die durchschnittliche Arbeitszeit anheben – ganz ohne Zwang, sondern durch Ermöglichung. Doch dafür braucht es mehr als politische Appelle: Nur mit flächendeckender Kinderbetreuung und flexiblen Arbeitsmodellen wird dieser Wandel Wirklichkeit. Wer also über „mehr Arbeit“ spricht, sollte genau hier ansetzen.
6. Die Statistik trügt

Ein oft übersehener Aspekt in der Debatte ist die methodische Schwäche der zugrunde liegenden Arbeitszeitstatistiken. Die OECD-Zahlen etwa erfassen nicht nur Vollzeitangestellte, sondern auch Teilzeitkräfte, Minijobber und Selbstständige. Das drückt den Durchschnitt und führt zu verzerrten Vergleichen, etwa mit Ländern, in denen Vollzeitbeschäftigung der Regelfall ist.
Hinzu kommt: Auch wenn ein Land mehr Arbeitsstunden meldet, bedeutet das nicht automatisch eine höhere Produktivität oder Lebensqualität. Lange Arbeitszeiten können sogar ineffizient sein, wenn sie nicht sinnvoll genutzt werden. Der reine Blick auf Zahlen lenkt also oft von den eigentlichen Herausforderungen ab: Wie lässt sich Arbeit besser verteilen, gerechter entlohnen und sinnvoll organisieren? Diese Fragen sind wichtiger als die Debatte um Stunden allein.
7. Mehr Arbeit durch Motivation

Was fehlt, ist nicht zwangsläufig Zeit – sondern oft Motivation und Sinnstiftung. Menschen arbeiten eher mehr, wenn sie sich wertgeschätzt fühlen, wenn die Bedingungen stimmen und sie Einfluss auf ihr Arbeitsumfeld haben. In einer zunehmend digitalen Arbeitswelt verschieben sich Prioritäten: Flexible Arbeitszeiten, Homeoffice und eine gute Unternehmenskultur spielen heute eine größere Rolle als starre Stundenkonten.
Anstatt nur über Maßnahmen zu sprechen, die auf Zwang setzen, braucht es Anreize, die auf Freiwilligkeit basieren. Dazu gehören gezielte Weiterbildungen, mehr Mitbestimmung und eine bessere Vereinbarkeit von Beruf und Privatleben. Wer mehr Leistung will, muss also auch mehr Vertrauen schenken. Denn Motivation wächst nicht durch Druck, sondern durch Perspektiven.
8. Die einfache Lösung liegt nahe

Am Ende ist die Lösung überraschend einfach – und doch schwer umzusetzen. Es geht nicht darum, Menschen zu mehr Arbeit zu drängen, sondern ihnen die Voraussetzungen dafür zu schaffen. Wer arbeiten will, sollte auch die Möglichkeit dazu haben: durch Infrastruktur, durch soziale Sicherheit und durch ein faires Steuersystem.
Gerade die Potenziale der weiblichen Erwerbsarbeit sind ein Schlüssel für die Zukunft. Gleichzeitig müssen wir Arbeit neu denken: weg von starren Modellen, hin zu mehr Flexibilität und Eigenverantwortung. Wer diese Strukturveränderungen ernst nimmt, wird feststellen: Die Arbeitszeitdebatte ist nicht durch mehr Stunden zu lösen, sondern durch bessere Rahmenbedingungen. So einfach – und so herausfordernd – ist es.4o