
Eine Aussage sorgt für politischen Sprengstoff: In der aktuellen Debatte um kantonale Mindestlöhne hat Arbeitgeber-Direktor Roland A. Müller mit einem kontroversen Statement eine Welle der Empörung ausgelöst. Löhne müssten nicht zwingend zum Leben reichen, sagte Müller – und forderte damit faktisch, dass Sozialhilfe die Differenz decken solle.
Diese Haltung provoziert nicht nur Kritik aus der Linken, sondern auch grundsätzliche Fragen zur Rolle von Unternehmen, Staat und Gesellschaft. Während der Nationalrat demnächst über die künftige Gültigkeit kantonaler Mindestlöhne entscheidet, wird klar: Die Fronten sind verhärtet – und das Thema brisanter denn je.
1. Eine Aussage, die für Unruhe sorgt

„Ein rein existenzsichernder Lohn ist nicht Aufgabe der Arbeitgeber“, erklärte Roland A. Müller bei einer Anhörung in der Wirtschaftskommission des Nationalrats. Für viele war das ein Affront. Besonders die Linke zeigte sich empört: Es könne nicht sein, dass Unternehmen Gewinne machten, aber das Existenzminimum dem Staat überließen.
Die Wortwahl Müllers galt als Symbol für eine veraltete Sicht auf Arbeitsverhältnisse. SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sprach von einer „miesen Unternehmerin oder hinterlistigen Ausbeuterin“, wenn jemand seinen Mitarbeitenden keine Löhne zum Leben zahlen wolle. Die Empörung war entsprechend heftig – und politisch kalkulierbar.
2. Was sagen die Mindestlohnregelungen heute?

Fünf Schweizer Kantone – darunter Genf, Neuenburg und das Tessin – haben bereits eigene Mindestlöhne eingeführt. Diese variieren je nach Region zwischen 20 und 24.50 Franken pro Stunde. Ziel ist, die sogenannten Working Poor – Menschen mit Vollzeitjobs, die trotzdem auf Sozialhilfe angewiesen sind – aus der Armutsfalle zu holen.
In Genf und Neuenburg gelten die kantonalen Mindestlöhne sogar vorrangig vor tieferen Löhnen in Gesamtarbeitsverträgen (GAVs). Diese Regelungen gelten als sozialpolitische Errungenschaft – und könnten durch die aktuelle Debatte massiv unter Druck geraten.
3. Die Perspektive der Arbeitgeber

Müller verteidigte seine Aussagen in einem Interview. Er verstehe durchaus das Ziel, dass Menschen von ihrer Arbeit leben können – doch wirtschaftlich sei das nicht überall realisierbar. In gewissen Branchen, so Müller, könnten höhere Mindestlöhne dazu führen, dass Jobs ganz verschwinden.
„Dann ist niemandem geholfen“, argumentiert er. Es sei besser, jemand habe einen tief entlöhnten Job als gar keinen. Müller pocht auf die wirtschaftliche Realität: Die Lohnhöhe müsse auch von der Produktivität tragbar sein. Ein zu hoher Mindestlohn gefährde nicht nur Arbeitsplätze, sondern auch die Sozialpartnerschaft.
4. Kritik von links: Die Rechnung zahlt der Staat

SP-Nationalrätin Jacqueline Badran sieht das ganz anders. Wer keinen existenzsichernden Lohn zahlen könne, habe unternehmerisch versagt. Es sei nicht die Aufgabe des Staates, die Defizite der Privatwirtschaft aufzufangen. Vielmehr verlören so verantwortungsvolle Betriebe gegenüber Ausbeutern an Boden.
„Gleich lange Spiesse für alle“, fordert sie – genau dafür brauche es Mindestlöhne. Das Modell „Gewinne privat, Kosten dem Staat“ sei weder fair noch zukunftsfähig. Aus ihrer Sicht offenbart Müllers Haltung ein zutiefst veraltetes Unternehmerbild, das soziale Verantwortung ausblendet.
5. Die Realität der Working Poor

Gewerkschafter Luca Cirigliano warnte eindringlich vor den Folgen, sollte der Bund die kantonalen Mindestlöhne aushebeln. In Genf und Neuenburg habe man erlebt, was es bedeutet, wenn Menschen trotz Vollzeitstelle Sozialhilfe beziehen müssen.
„Das wollte man mit Mindestlöhnen beenden“, so Cirigliano. Eine Rückkehr zu tieferen Löhnen könne bedeuten, dass ganze Sozialämter überlastet würden. Bis zu 300 Franken pro Monat fehlten dann im Einkommen – mit gravierenden Folgen für Betroffene. Es gehe um mehr als Zahlen: um Würde und soziale Teilhabe.
6. Die Rolle der Gesamtarbeitsverträge

Müller pocht darauf, dass GAVs Vorrang haben sollten, wenn sich Sozialpartner auf tiefere Löhne einigen. Diese Verträge böten neben Lohnregelungen auch Zusatzleistungen wie Weiterbildung, mehr Ferien oder bessere Arbeitsbedingungen. Der kantonale Eingriff gefährde dieses Gleichgewicht.
Doch Kritiker wenden ein: Ein GAV könne nur dann sozial gerecht sein, wenn er ein existenzsicherndes Einkommen garantiert. Ansonsten bleibe es beim Flickwerk aus Gnadenakten – und der Staat müsse als Lückenbüßer einspringen. Die Debatte zeigt: Hier prallen zwei Gesellschaftsbilder aufeinander.
7. Politischer Showdown in der Sommersession

Die Sommersession des Nationalrats könnte entscheidend werden: Soll der Bund künftig das Recht erhalten, kantonale Mindestlöhne auszuhebeln, wenn ein GAV tiefere Löhne vorsieht? Wirtschaftsverbände und bürgerliche Parteien sagen Ja – mit Blick auf die Standortattraktivität und die Autonomie der Sozialpartner.
Doch linke Kräfte und betroffene Kantone laufen Sturm. Für sie ist klar: Ohne existenzsichernde Löhne wächst die soziale Ungleichheit, und der Staat muss einspringen. Die Diskussion um Müllers Aussage hat der Debatte zusätzlichen Zündstoff geliefert. Es geht um mehr als Geld – es geht ums Grundverständnis von Arbeit.