
Die Schweiz gilt als Vorzeigeland in Sachen nachhaltiger Verkehrspolitik. Jahrzehntelang wurde an einem System gearbeitet, das den Güterverkehr von der Strasse auf die Schiene verlagern sollte – mit Erfolg, wie es lange schien. Im Zentrum stand dabei eine einzigartige Infrastrukturstrategie, die mit massiven Investitionen und modernster Technik umgesetzt wurde.
Doch nun mehren sich Stimmen, die sich ernsthaft um die Wirksamkeit dieses Ansatzes sorgen. In den letzten Monaten ist es zu Entwicklungen gekommen, die Fragen aufwerfen und Unruhe im politischen Betrieb verursachen. Was ist schiefgelaufen – und wie reagiert die Politik? Dieser Artikel beleuchtet die Lage rund um die Verlagerungspolitik und die Neat-Infrastruktur aus verschiedenen Blickwinkeln.
1. Die Idee hinter dem Jahrhundertprojekt

Die Schweiz wollte mit einem klaren Ziel vorangehen: Weniger Lastwagen auf den Strassen, mehr Güter auf der Schiene – vor allem durch die Alpen. Dieses Ziel wurde in der Verfassung verankert und war Grundlage für ein einmaliges Infrastrukturprojekt: die Neat. Mit dem Gotthard-, Lötschberg- und Ceneri-Basistunnel wurde eine der modernsten Transitachsen Europas gebaut.
Das Versprechen: mehr Umwelt- und Lärmschutz, weniger Verkehrschaos auf den Transitachsen. Bis heute ist die Strategie international anerkannt. Doch nun droht die Umsetzung ins Stocken zu geraten. Erste Zweifel an der Nachhaltigkeit der Fortschritte werden laut. Dabei schien die Schweiz doch auf dem besten Weg, ein echtes Vorbild in der Verkehrswende zu sein.
2. Alarmierende Zahlen am Gotthard

Die neuesten Verkehrszahlen zeichnen ein besorgniserregendes Bild. Im Jahr 2024 fuhren 960’000 Lastwagen durch die Schweizer Alpen – das sind 44’000 mehr als noch im Jahr davor. Besonders betroffen ist der Gotthard-Korridor, wo der Schwerverkehr erneut zunimmt. Das ist ein Rückschlag für die Verlagerungspolitik, die genau diese Entwicklung verhindern sollte.
Einst hatte man sich vorgenommen, den LKW-Verkehr auf maximal 650’000 Fahrzeuge pro Jahr zu begrenzen – doch davon ist die Realität weit entfernt. Selbst modernste Tunnelanlagen und staatliche Fördergelder konnten diesen Trend zuletzt nicht aufhalten. Die steigende Zahl von Lastwagen steht im klaren Widerspruch zu den politischen Zielen – und sie macht den Handlungsbedarf deutlich.
3. Das Aus der Rollenden Landstrasse

Ein weiterer Rückschlag kam mit der plötzlichen Ankündigung, dass die Rollende Landstrasse (Rola) ihren Betrieb Ende 2025 einstellen wird. Diese Verbindung beförderte jährlich 72’000 Lastwagen per Bahn durch die Alpen – eine spürbare Entlastung für das Schweizer Strassennetz. Doch trotz millionenschwerer Bundesunterstützung war das Projekt nicht rentabel genug, wie die Betreiber erklärten.
Damit fällt ein wichtiges Element der Verlagerungsstrategie weg. Die Folge: Noch mehr LKWs dürften künftig auf der Strasse unterwegs sein. Gerade im Moment politischer Debatten zur Verkehrsentlastung in Uri trifft diese Nachricht besonders hart. Es zeigt sich: Marktwirtschaftliche Realitäten torpedieren politische Ambitionen, wenn das Zusammenspiel von Angebot und Nachfrage nicht stimmt.
4. Deutschland als Bremsklotz

Ein zentraler Faktor für die Krise liegt jenseits der Grenze: Die deutsche Bahninfrastruktur ist marode. Zahlreiche Baustellen, Streckensperrungen und Verzögerungen machen die Zulaufstrecken zur Schweiz unzuverlässig. Kunden springen ab, weil die Transporte nicht planbar sind – die Folge: mehr Transporte auf der Strasse. Besonders das Nadelöhr zwischen Karlsruhe und Basel, das seit Jahren auf den vierspurigen Ausbau wartet, sorgt für massive Engpässe.
Der Bund warnt vor einer dauerhaften Rückverlagerung von Gütern auf die Strasse, wenn sich die Lage nicht bessert. Das zeigt: Die Schweiz kann noch so viel investieren – ohne funktionierende Anbindung in Europa gerät das gesamte Konzept ins Wanken. Die europäische Kooperation ist damit entscheidender denn je.
5. Wirtschaft bremst Verlagerung zusätzlich

Auch die konjunkturelle Entwicklung spielt eine Rolle. Die Wirtschaft in Europa wächst langsamer, das Handelsvolumen stagniert oder sinkt. In der Folge nehmen auch die Bahntransporte durch die Alpen ab – im Jahr 2024 wurden eine Million Tonnen weniger per Schiene befördert als im Vorjahr. Dazu kommen steigende Betriebskosten, die Bahnbetreiber wie SBB Cargo zur Erhöhung ihrer Preise zwingen.
Das wiederum macht Bahntransporte für Unternehmen weniger attraktiv. Kritiker, darunter Nationalrat Gerhard Pfister, warnen vor verkehrspolitisch dramatischen Folgen. Wenn wirtschaftliche Rahmenbedingungen nicht stimmen, verliert die Bahn im Güterverkehr an Boden – mit Konsequenzen für Verkehr, Umwelt und CO₂-Bilanz.
6. Der Traum von der Verlagerung gerät ins Wanken

Die Neat galt als Leuchtturmprojekt – heute zeigt sich: Der Traum von der vollständigen Verlagerung ist brüchig geworden. Die Investitionen in Milliardenhöhe garantieren nicht automatisch den gewünschten Effekt. Trotz modernster Infrastruktur und politischem Rückhalt stagniert der Fortschritt.
Von einem durchgehend zuverlässigen Bahnnetz, das den Güterverkehr effizient abwickelt, ist man noch weit entfernt. Der Rückgang der Schienentransporte trifft nicht nur Umweltziele, sondern auch die Glaubwürdigkeit der Schweizer Verkehrspolitik. Dabei war die Neat mehr als nur ein Tunnelprojekt – sie war ein Symbol für eine moderne, nachhaltige Mobilität. Umso schmerzlicher ist es nun, die Grenzen dieser Strategie offen zutage treten zu sehen.
7. Gegenmassnahmen des Bundes

Der Bund erkennt den Ernst der Lage – und versucht nun Gegensteuer zu geben. Geplant ist unter anderem der Ausbau der Bahnlinie auf der linken Rheinseite, gemeinsam mit Frankreich. So sollen mehr Züge auf die Neat-Achse gelangen. Gleichzeitig sollen die Gelder, die bislang für die Rola vorgesehen waren, in neue Fördermaßnahmen umgeleitet werden – zum Beispiel für den Container- oder Sattelaufliegertransport per Bahn.
Das Bundesamt für Verkehr betont: Noch sei die Strategie nicht gescheitert, sondern lediglich unter Druck. Ziel sei es, die Infrastrukturengpässe zu beseitigen und die Wettbewerbsfähigkeit der Bahn zu stärken. Der politische Wille ist da – doch ob das reicht, ist weiterhin offen.
8. Zwischen Rückschritt und Hoffnung

Trotz aller Probleme bleibt die Schweiz im europäischen Vergleich weiterhin Spitzenreiter bei der Verlagerung. Der Schienenanteil am alpenquerenden Güterverkehr liegt bei 70 Prozent – in Frankreich oder Österreich ist der Wert deutlich tiefer. Und ohne die bisherigen Massnahmen, so das Bundesamt, würden heute 800’000 zusätzliche Lastwagen pro Jahr über die Alpen rollen.
Die Wirkung der bisherigen Politik ist also real – doch sie reicht nicht mehr aus, um dem neuen Druck standzuhalten. Es braucht konstruktive Lösungen, europäische Kooperation und langfristiges Denken. Denn die Vision einer nachhaltigen Verkehrsachse durch die Alpen ist nicht gescheitert – sie steht nur vor ihrer größten Bewährungsprobe.