
Kaum ein politisches Thema polarisiert derzeit so stark wie der Vorstoß zur Verlängerung der Lebensarbeitszeit. Ein Satz genügte, um die Diskussion neu zu entfachen: Arbeiten bis 70 – ist das wirklich notwendig oder sozial unzumutbar? Für viele klingt diese Idee nach einem Rückschritt, für andere nach einer unvermeidlichen Realität. Die Meinungen auf der Straße könnten kaum unterschiedlicher sein.
Ob alt oder jung, ob angestellt oder bereits in Rente – fast jeder hat dazu eine klare Haltung. Und spätestens jetzt stellt sich die Frage: Wie gerecht und tragfähig ist unser Rentensystem wirklich? Und welche Alternativen wären überhaupt möglich?
1. Ein Vorschlag, der für Aufsehen sorgt

Wirtschaftsministerin Katherina Reiche hat mit ihrer Aussage zur „Rente mit 70“ einen Nerv getroffen. Für viele ist der Gedanke, bis ins hohe Alter zu arbeiten, schlicht nicht vorstellbar. Die Reaktionen reichen von Zustimmung bis hin zu massiver Ablehnung. Klar ist: Das Thema trifft ins Herz der sozialen Gerechtigkeit.
Auch wenn noch kein Gesetzesentwurf auf dem Tisch liegt, ist die öffentliche Debatte längst entfacht. Denn was bedeutet eine solche Verlängerung der Lebensarbeitszeit konkret – für körperlich arbeitende Menschen, für Frauen mit Erziehungszeiten, für Geringverdiener? Die Antworten fallen sehr unterschiedlich aus.
2. „Nicht jeder ist mit 70 noch fit“

Büsra Yirtan bringt es auf den Punkt: Wer heute an die eigene Zukunft denkt, dem erscheint die Vorstellung, noch mit 70 Jahren zu arbeiten, erschreckend. Und das hat gute Gründe. Denn auch wenn die Lebenserwartung steigt, heißt das nicht automatisch, dass Menschen im Alter leistungsfähig bleiben.
Gerade im Handwerk, in Pflegeberufen oder im Baugewerbe sind die Belastungen so groß, dass ein längerer Verbleib im Arbeitsleben für viele realitätsfern ist. Auch Sara Jahan, eine junge Medizinstudentin, äußert sich skeptisch: Es werde immer Menschen geben, die früher raus müssen – und es brauche differenzierte Lösungen, keine pauschalen Vorgaben.
3. „Wer kann, soll länger arbeiten – aber freiwillig“

Einige Stimmen, wie die von Ursula Losukow oder Georgios Babatsikos, sehen in der Verlängerung der Lebensarbeitszeit einen möglichen Ausweg aus der Rentenmisere – unter Bedingungen. Wer sich gesund und leistungsfähig fühle, könne gern bis 70 arbeiten. Doch es dürfe kein Zwang entstehen, besonders nicht für jene, die ihr Leben lang hart geschuftet haben.
Auch das Thema Einsamkeit im Alter spielt eine Rolle: Manche empfinden die Arbeit sogar als sozialen Anker. Trotzdem: Die zentrale Forderung bleibt Freiwilligkeit. Nur so könne man dem individuellen Gesundheitszustand, der Biografie und dem sozialen Umfeld gerecht werden – und echten gesellschaftlichen Ausgleich schaffen.
4. Mehr Kinder, bessere Integration – statt mehr Arbeit?

Ein anderer Ansatz kommt von Caterina Boecker und Marc-Anton Böhm-von Thenen. Sie sehen die Lösung nicht in längerer Arbeit, sondern in der Stärkung der Beitragszahler. Mehr Kinder, gezielte Einwanderung und ein modernes, gerechtes Sozialsystem – das müsse die Priorität sein. Denn das derzeitige Modell sei nicht mehr zeitgemäß, sagen sie.
Stattdessen brauche es eine mutige Reform, die nicht nur Belastungen verteilt, sondern Zukunftsperspektiven schafft. Dazu gehören auch faire Beiträge aller Berufsgruppen – einschließlich Beamter – sowie mehr Anreize für Familiengründung. Ihre Botschaft: Wir brauchen nicht nur mehr Arbeit, sondern mehr Systemdenken.