
Nicht viele Menschen erleben zwei Weltkriege, den Wandel ganzer Epochen und ein ganzes Jahrhundert voller persönlicher Geschichten. In Michelstadt lebt eine Frau, deren Lebensspanne kaum zu fassen ist. Am 29. April feiert sie einen Geburtstag, den nur wenige jemals erreichen.
Trotz ihres Alters bleibt sie bescheiden – und möchte kein großes Aufheben um ihre Person. Ihr Leben erzählt dennoch viel über Stärke, Haltung und die kleinen Dinge, die wirklich zählen. Und manchmal reicht ein Butterbrot, um alles zu erklären
1. Von Brandenburg bis Marokko – ein bewegtes Leben

Geboren wurde sie 1915 in Breddin (Brandenburg), erlebte Kaiser, Kriege und Generationen. Ihre Leidenschaft war die Kunst – später studierte sie in Berlin, bevor sie mit ihrem Mann Albert nach Frankfurt zog. Die beiden hatten drei Kinder, sieben Urenkel – und viele gemeinsame Reisen. Besonders gern erinnert sie sich an Marokko: mit dem Campingbus durch die Wüste, Halten wo man wollte.
Freiheit war ihr immer wichtig. Im Heim musste sie sich erst daran gewöhnen, dass andere den Tagesablauf bestimmen. Heute sieht sie das mit einem Augenzwinkern – nicht alles sei perfekt, aber vieles sei gut.
2. Kunst, Krieg und Kindeskinder

Als junge Frau hatte Stefanie Kahl eine große Liebe zur Malerei. Kunst war für sie Ausdruck, Trost und Abenteuer. Trotz zweier Weltkriege hielt sie daran fest. Ihr Ehemann starb 1991, ihre Tochter lebt heute in den USA. Die Familie ist weit verstreut – aber sie ist nie allein. Dreifache Oma, siebenfache Uroma – und ein fester Anker.
Ihre Kinder organisieren ihren Geburtstag, besuchen sie regelmäßig, hören ihr zu. Und sie? Gibt Ratschläge mit feiner Ironie. „Nicht zu viel jammern“, sagt sie. Und: „Das Leben ist, wie’s kommt – man muss es nehmen, wie es ist.“
3. Ein stiller Tag, ein stilles Leben

In einem Pflegeheim in Hessen beginnt ein besonderer Tag. Ohne großes Tamtam, ohne Öffentlichkeit. Stefanie Kahl wird 110 Jahre alt. Für sie selbst ist es ein ganz normaler Morgen. Kaffee, ein paar Worte mit dem Pflegepersonal – und vielleicht ein Besuch der Familie. Für andere wäre das ein historisches Ereignis. F
ür sie? Einfach nur ein weiteres Kapitel. Die Bewohner kennen sie längst, doch nicht alle wissen, wie besonders ihre Geschichte ist. Denn obwohl sie das Rampenlicht meidet, hat ihr Leben viele Spuren hinterlassen.
4. Langlebig, aber nicht laut

Wer Stefanie Kahl heute begegnet, sieht eine ruhige Frau mit wachem Blick – auch wenn die Augen nicht mehr so scharf sind. Mit dem Kopf ist sie aber noch ganz klar. Sie redet nicht gern über ihr Alter, dafür umso lieber über das Leben. Und auch wenn sie längst auf Hilfe angewiesen ist, strahlt sie eine innere Unabhängigkeit aus.
Ihr Geburtstag soll kein großes Fest werden. Kuchen, vielleicht ein paar Gäste – und wenn möglich: Ruhe. Denn nach so vielen Jahrzehnten darf man sich auch mal zurücklehnen.
5. Der Bürgermeister kommt, die Wünsche sind klein

Stefanie Kahl erwartet keine Geschenke, keine Blumensträuße. Was sie sich wünscht, ist etwas Praktisches: Schuhe mit Gummisohle und eine neue Uhr. Der Bürgermeister hat seinen Besuch angekündigt, die Familie bringt Kuchen. Für sie ist das genug.
Denn sie weiß: Der Wert eines Tages liegt nicht in seiner Lautstärke, sondern im Gefühl, gesehen zu werden. Der 110. Geburtstag ist da – ob sie will oder nicht, wie sie selbst sagt. Und sie nimmt ihn an, so wie sie auch alles andere im Leben angenommen hat: mit Gelassenheit.
6. Butterbrote, Bewegung und Mut zum Leben

Ihr Geheimrezept fürs Altwerden? „Frische Luft und Butterbrote“, sagt Stefanie Kahl schmunzelnd. Ein Auto habe sie nie gebraucht, sie sei früher viel gelaufen. Bewegung sei entscheidend – und Freude am Leben. Brot mit dicker Butter sei „gut für die Nerven“ gewesen. Alt fühle sie sich nur, wenn das Wetter grau sei.
Kaffee trinkt sie noch täglich – mit Milch, aber ohne Zucker. Kleine Rituale, große Wirkung. Ihre Botschaft an die Jungen: nicht alles planen, sondern auch mal einfach leben. Und: immer eine gute Freundin haben, das helfe in jedem Alter.
7. Kein Wunsch nach Unsterblichkeit

110 Jahre sind ein Geschenk – aber kein Ziel. „Ich will nicht 120 werden“, sagt Stefanie Kahl deutlich. Sie hat viel gesehen, viel erlebt. Jetzt ist es genug. Nicht aus Resignation – sondern aus Ehrlichkeit. „Ein Dauerzustand soll das nicht werden“, erklärt sie. Ihre Bilanz ist ruhig, würdevoll, ohne Pathos. Sie schaut nicht zurück, sondern blickt von Tag zu Tag.
Und wenn es regnet, zieht sie sich einfach ein bisschen zurück. Stefanie Kahl ist kein Denkmal – sie ist einfach nur sie selbst. Und das ist vielleicht das größte Geheimnis ihres langen Lebens.